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Niemals ohne sie

von Jocelyne Saucier
Auflage:1. Auflage
Seitenanzahl:255 Seiten
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht:2019
Verlag: Insel Verlag
ISBN:978-3-458-76236-2
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Kurztext / Annotation

Die Cardinals sind keine gewöhnliche Familie. Sie haben den Schneid und die Wildheit von Helden, sie haben Angst vor nichts und niemandem. Und sie sind ganze dreiundzwanzig. Als der Vater in der stillgelegten Mine eines kanadischen Dorfes Zink entdeckt, rechnet der Clan fest mit einem Anteil am Gewinn - und dem Ende eines kargen Daseins. Aber beides wird den Cardinals verwehrt, und so schmieden sie einen explosiven Plan, der, wenn schon nicht die Mine, so wenigstens die Ehre der Familie retten soll. Doch der Befreiungsschlag scheitert und zwingt die Geschwister zu einem Pakt des Schweigens, der zu einer Zerreißprobe für die ganze Familie wird.

»Saucier gelingt es, dem Leser erst ein freches, freies Leben vorzugaukeln und ihn dann schrittweise in dessen finsteres Herz zu führen - ein grandioser Höllenritt.«, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In Niemals ohne sie schafft Jocelyne Saucier eine Welt, die aller Rauheit zum Trotz den Glauben an ein selbstbestimmtes, freies und gemeinschaftliches Leben feiert. So belebend und gewagt wie eine Utopie.



Jocelyne Saucier, geboren 1948 in der kanadischen Provinz New Brunswick, arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ihr vierter Roman Ein Leben mehr, der 2015 bei Insel erschien, war ein Bestseller und wurde verfilmt. Saucier lebt heute in einem Zehn-Seelen-Ort im Wald, im nördlichen Québec.

Beschreibung für Leser

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Als der alte Zausel

Als der alte Zausel mit den nikotinglänzenden Zähnen die Frage stellte, dachte ich, jetzt ginge das übliche Theater los.

Ich habe nichts dagegen. Ich liebe den Moment, wenn sich unsere Familie in das Gespräch einschleicht und ich merke, dass mir mein Gegenüber gleich die Frage stellen wird.

Unsere Familie ist das Glück meines Lebens und ein Thema, mit dem ich immer punkten kann. Wir sind wie niemand sonst, wir haben uns selbst erschaffen, wir sind einander unentbehrlich, unvergleichlich und unangepasst, die Einzigen unserer Art. All die Wichte, die wie Schmetterlinge um uns herumgeflattert sind, haben sich an uns die Flügel verbrannt. Wir sind nicht bösartig, aber wir zeigen unsere Zähne. Wenn die Cardinals ihren Auftritt hatten, nahmen alle Reißaus.

»Und wie viele wart ihr genau?«

Die Frage beschwört das Wunder herauf, und davon gibt es in meinem Leben viele. Ich kann meinen Stolz kaum verbergen, wenn sie im Chor wiederholen, fassungslos, perplex:

»Einundzwanzig? Einundzwanzig Kinder?«

Sofort kommen weitere Fragen, immer dieselben, oder jedenfalls fast: wie wir das mit den Mahlzeiten gemacht haben (immer will irgendeine Frau wissen, wie groß der Tisch war), wie wir es geschafft haben, alle unterzubringen (wie viele Schlafzimmer?), wie das an Weihnachten war, zu Schulanfang, bei einem neuen Baby; und eure Mutter, war die nicht erschöpft von den vielen Geburten?

Also erzähle ich. Von dem Haus, das unser Vater, nachdem er die Mine entdeckt hatte, von Perron nach Norcoville umgezogen hat. Von den vier Küchen, den vier Wohnzimmern, den vier winzigen Badezimmern (wir nannten sie »Kabuffs«, weil keines von ihnen eine Badewanne oder ein Waschbecken hatte); ursprünglich hatte das Haus aus vier Wohnungen bestanden, und unser Vater hatte einfach die Wände durchbrochen. Ich tische ihnen ordentlich was auf, keiner soll hungrig aus dem Gespräch herausgehen. Zwei Dutzend Eier zum Frühstück, hundert Pfund Kartoffeln im Keller, Prügeleien um die Stiefel morgens vor der Schule, Prügeleien am Abend um einen Platz vor dem Fernseher, Prügeleien die ganze Zeit, ohne Grund, aus Spaß, aus Gewohnheit. Das übliche Theater eben.

Alles, was ich erzähle, weiß ich von den anderen, über die Zeit, als wir die Kings waren, als wir fast alle noch zu Hause lebten, als wir uns begeistert fragten, was uns erwarten würde, wenn wir einer nach dem anderen Norco verlassen und die Welt erobern würden. Die Zeit von Geronimo, Gelber Riese, Tommy und El Toro. Die Sechzigerjahre. Die Mine war geschlossen, Norco zerfiel, die Häuser verschwanden (die Leute zogen sie um oder wir brannten sie nieder), Gestrüpp überwucherte die Betonplatten, Unkraut nagte an den kaputten Straßen: Wir waren die Herrscher von Norco. Norco hätte eigentlich Cardinal heißen müssen, schließlich hatte unser Vater das Zinkvorkommen entdeckt, bevor man es ihm geklaut hatte.

Ich war noch nicht geboren, als die Mine dichtgemacht hat. Heulen und Zähneklappern in den armseligen Hütten, aber nicht bei uns. Wir hatten unseren großen Tag. Die Northern Consolidated hatte auf dem internationalen Finanzmarkt zu hoch gepokert, war vom Fall des Zinkpreises mitgerissen worden, fulminant gescheitert und hatte den Schwanz eingekniffen. Für uns war das kein Grund zum Heulen: Endlich bekamen wir unsere Mine zurück.

Ich wurde ein Jahr später geboren, schwach auf der Brust und mit spitzem Schädel, weshalb ich das letzte Kind bleiben sollte, das einundzwanzigste, und den Spitznamen »Matz« bekam. Als er das krakeelende Knochenbündel in der Wiege sah, beschloss unser Vater (wegen der Geburtszangen?, weil ich der Sippe Schande machte?), dass Schluss war mit dem Kinderkriegen.

Der Nachzügler also, das Nesthäkchen, das man auf der Hüfte oder auf den Schultern trug, das man von Hand zu Hand weiterreichte, das hinter den anderen herstolperte, das brüllte, schrie und