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Mittagsstunde

Roman von Dörte Hansen
Seitenanzahl:336 Seiten
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht:2018
Verlag: Penguin Verlag
ISBN:978-3-641-16783-7
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Kurztext / Annotation

Der bewegende Bestseller von Dörte Hansen
Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt 'Altes Land' wurde 2015 zum 'Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels' und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman 'Mittagsstunde' erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. 2022 erschien ihr dritter Roman 'Zur See'. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, ist Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Beschreibung für Leser

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1
Ich schau den weißen Wolken nach

Der erste Sommer ohne Störche war ein Zeichen, und als im Herbst die Stichlinge mit weißen Bäuchen in der Mergelkuhle trieben, war auch das ein Zeichen. »De Welt geiht ünner«, sagte Marret Feddersen und sah die Zeichen überall.

Die alten Ulmen starben einen Sommer später, am Westerende, wo sie seit hundert Jahren Ast in Ast gestanden hatten. Ihre Blätter wurden plötzlich gelb, die Kronen kahl, im Juni schon. Sie standen noch ein Jahr wie abgedankte Könige. Dann kam Karl Martensen mit seinen Leuten, und ihre Motorsägen kreischten lange, bis sie die Ulmenstämme auf dem Wagen hatten. Hartes Holz, das ewig trocknen musste, bis man es hobeln oder fräsen konnte. Marret kam, sie holte sich ein Stück der grauen Borke ab und eine Handvoll Ulmenfrüchte, dann ging sie wieder durch das Dorf, von Tür zu Tür, wie sie es immer tat, wenn sie ein Zeichen sah: »De Welt geiht ünner.«

Die Welt ging unter, als auf der neuen Straße der jüngste Sohn von Hamkes überfahren wurde, kaum dass die weißen Striche in der Mitte trocken waren. Und als die Jäger bei der Treibjagd im November den ganzen Tag über die leeren Felder zogen und nicht einen Hasen fanden, den sie hätten schießen können, ging sie wieder unter. Und dann noch einmal ein paar Sommer später, als Paule Bahnsens Ältester mit einem Dominator 76, dem größten Mähdrescher, der je im Dorf gesehen worden war, ein Rehkitz überfuhr. Es hatte sich im hohen Korn versteckt, weil junge Rehe nicht vor Feinden fliehen. Sie machen sich ganz klein und bleiben liegen, bis die Gefahr vorüber ist. Oder das Schneidwerk eines Dominator 76 sie erwischt, 3,60 Meter breit und nagelneu. Knochen, Blut und Fell im Messerbalken. Ein junger Bauer, der nie wieder dreschen will.

Man konnte Marret Feddersen von Weitem hören, wenn sie in ihren weißen Klapperlatschen angelaufen kam. Sie trug die alten Dinger immer. Schiefgetretene Holzsandalen, auch bei Schnee und Eis. Wozu noch Schuhe kaufen.

Die Leute seufzten, wenn sie das Klappern auf der Straße hörten. Dor kummt de Ünnergang al wedder. Man hatte Bohnen einzuwecken, den Motorblock des Schleppers auszubauen, man stand gerade am Sortierband mit den Frühkartoffeln oder hängte die gewaschenen Gardinen auf - und dann kam Marret angeklappert. Es passte manchmal schlecht.

Sie brauchte nicht zu klopfen, natürlich kam sie durch die Hintertür, denn an die Haustür gingen nur die Fremden und Hausierer. Wenn niemand da war, setzte sie sich an den Küchentisch, malte summend ein paar Blumen oder Tiere auf Notizblöcke und Einkaufszettel, kritzelte mit Kugelschreibern Schafe, Schweine, Kühe auf die Rückseite des Bauernblatts und Rosenranken an den Rand der Tageszeitung. Manchmal trank sie ein Glas Wasser oder nahm sich einen Apfel. Wenn dann noch immer keiner kam, versuchte sie es in der nächsten Küche. Sie ging auch in die Ställe, in die Werkstätten, stand in den Klapperlatschen plötzlich an der Hobelbank, am Amboss, in der Bäckerei am Ofen. Sie erschreckte Kalli Jensen einmal fast zu Tode an der Melkmaschine, der Kompressor war so laut, er hatte sie nicht kommen hören und sackte halb zu Boden, als ihm Marret plötzlich auf die Schulter tippte. Er japste, lehnte sich schwer atmend an die Stallwand und wollte dann kein Wort mehr hören von irgendwelchen Untergängen.

Die toten Fische, Bäume, Kinder, Rehe, der Sommer ohne Störche und die Felder ohne Hasen, sie waren Vorzeichen der großen Katastrophe, die Marret schriftlich hatte, schwarz auf weiß in ihrem Blatt. DIE ZEIT LÄUFT AB! Ein altes Heft im DIN-A5-Format, mit Tesafilm an vielen Stellen schon geklebt. Sie hatte es auf einem Tisch gefunden im Gasthof Feddersen, wo sie den Boden wischte jeden Abend, es musste jemand dort vergessen haben. Das Titelbild sah aus, als hätte sich ein Jahrmarktsmaler an der Apokalypse versucht: berstende Häuser vor loderndem Himmel und Menschen, die mit auf