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Die Unsterblichen

Roman von Chloe Benjamin
Seitenanzahl:480 Seiten
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht:2018
Verlag: btb Verlag; G.B.Putnam's Sons
ISBN:978-3-641-20708-3
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Kurztext / Annotation

Wie würdest du leben, wenn du wüsstest, an welchem Tag du stirbst? Sommer 1969: Wie ein Lauffeuer spricht sich in der New Yorker Lower East Side herum, dass eine Wahrsagerin im Viertel eingetroffen ist, die jedem Menschen den Tag seines Todes vorhersagen kann. Neugierig machen sich die vier Geschwister Gold auf den Weg. Nichtsahnend, dass dieses Wissen für jeden von ihnen auf unterschiedliche Weise zum Verhängnis wird. Simon, den Jüngsten, zieht es Anfang der 1980-er Jahre nach San Francisco, wo er nach Liebe sucht und alle Vorsicht über Bord wirft. Klara, verwundbar und träumerisch, wird als Zauberkünstlerin zur Grenzgängerin zwischen Realität und Illusion. Daniel findet nach 9/11 Sicherheit als Arzt bei der Army. Varya wiederum widmet sich der Altersforschung und lotet die Grenzen des Lebens aus. Doch um welchen Preis?

Chloe Benjamin gelangte mit »Die Unsterblichen« auf Anhieb in die Top Ten der Bestsellerliste der New York Times. Der Roman wurde mehrfach als »Best Book of the Year« ausgezeichnet und erscheint in mehr als 30 Ländern. Chloe Benjamin stammt aus San Francisco und lebt heute in Madison, Wisconsin.

Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

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1

Als Saul stirbt, sitzt Simon im Physikunterricht und
zeichnet konzentrische Kreise, die die Ringe einer Elektronenhülle darstellen sollen, aber für Simon überhaupt keinen Sinn ergeben. Er ist nie ein guter Schüler gewesen, dafür ist er viel zu verträumt, von seiner Legasthenie ganz zu schweigen, und wozu eine Elektronenhülle gut sein soll - die Umlaufbahn der Elektronen um den Atomkern -, ist ihm schleierhaft. In diesem Augenblick verkrampft sich sein Vater auf dem Rückweg von der Mittagspause auf dem Fußgängerüberweg in der Broome Street. Ein Taxi hupt und hält an. Saul sinkt auf die Knie. Sein Herz wird nicht mehr mit Blut versorgt. Sein Tod ergibt für Simon ebenso wenig Sinn wie die Bewegung der Elektronen in der Elektronenhülle eines Atoms: Beides passiert und ist im nächsten Moment vorbei.

Varya studiert am Vassar College, Daniel an der University of New York. Beide fahren sofort nach Hause. Keiner versteht es. Gut, Saul stand unter Stress, aber die schlimmsten Zeiten, die New York durchgemacht hat - die Finanzkrise, die Plünderungen während des großen Stromausfalls -, sind längst vorbei. Die Gewerkschaften haben die Stadt vor dem Bankrott bewahrt, und New York schaut wieder nach vorn. Im Krankenhaus erkundigt sich Varya nach den letzten Minuten im Leben ihres Vaters. Hatte er Schmerzen? Nur kurz, sagt die Schwester. Hat er noch etwas gesagt? Niemand kann sich erinnern, dass er das getan hätte. Was seine Frau und seine Kinder nicht überraschen dürfte, denn die sind es gewohnt, dass er oft und lange geschwiegen hat - und doch fühlt Simon sich um eine letzte Erinnerung an seinen Vater betrogen, der im Tod ebenso schweigsam ist, wie er es im Leben war.

Da der nächste Tag Sabbat ist, findet die Beerdigung am Sonntag statt. Sie versammeln sich in der Congregation Tifereth Israel, der konservativen Synagoge, in der Saul Mitglied war. Im Eingangsbereich gibt Rabbi Chaim jedem Familienmitglied eine Schere für die Kria.

»Nein, das mach ich nicht«, sagt Gertie, die man durch jeden Schritt des Beerdigungsrituals führen muss, so als handelte es sich um Bräuche eines Landes, das sie nie hatte besuchen wollen. Sie trägt ein Etuikleid, das Saul 1962 für sie genäht hat: robuste Baumwolle mit Abnähern in der Taille, vorne geknöpft und mit Gürtel. »Sie können mich nicht dazu zwingen«, fügt sie hinzu, während ihr Blick nervös zwischen dem Rabbi und ihren Kindern hin und her wandert, die sich alle gehorsam die Kleider über dem Herzen aufgeschnitten haben. Rabbi Chaim erklärt ihr, dass nicht er sie zwingen kann, sondern Gott, aber es stellt sich heraus, dass Gott es auch nicht kann. Am Ende gibt der Rabbi Gertie ein schwarzes Band zum Durchschneiden, dann nimmt sie ihren Platz ein, siegreich, wenn auch gekränkt.

Simon ist noch nie gern in die Synagoge gegangen. Als Kind glaubte er, dass es in diesem alten, dunklen Gemäuer spukte. Am schlimmsten waren die Gottesdienste: die endlosen stillen Gebete, die inbrünstigen Bitten um den Neuaufbau von Zion. Jetzt steht Simon vor dem geschlossenen Sarg, spürt die Luft, die in sein aufgeschlitztes Hemd dringt, und begreift, dass er das Gesicht seines Vaters nie wieder sehen wird. Er stellt sich Sauls abwesenden Blick und sein züchtiges, beinahe feminines Lächeln vor. Rabbi Chaim nennt Saul edelmütig, bezeichnet ihn als einen Mann von Charakter und Stärke, aber für Simon war er ein höflicher, schüchterner Mann, der allen Konflikten aus dem Weg ging - ein Mann, der so leidenschaftslos war, dass es an ein Wunder grenzt, dass er Gertie geheiratet hat, eine ehrgeizige, launenhafte Frau, die so gar nicht zu ihm zu passen schien.

Nach dem Gottesdienst folgen sie den Sargträgern zum Mount Hebron-Friedhof, wo Sauls Eltern begraben liegen. Beide Mädchen weinen - Varya still, Klara so laut wie ihre Mutter -, und Daniel scheint sich gerade so mit einer Mischung aus Pflichtgefühl und Benommenheit aufrecht zu halten. Aber Simon ka