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Vardo – Nach dem Sturm

Roman von Kiran Millwood Hargrave
Seitenanzahl:432 Seiten
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht:2020
Verlag: Diana Verlag; Picador
ISBN:978-3-641-24946-5
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Kurztext / Annotation

Vardø, Norwegen am Weihnachtsabend 1617. Maren sieht einen plötzlichen, heftigen Sturm über dem Meer aufziehen. Vierzig Fischer, darunter ihr Vater und Bruder, zerschellen an den Felsen. Alle Männer der Insel sind ausgelöscht - und die Frauen von Vardø bleiben allein zurück.

Drei Jahre später setzt ein unheilvoller Mann seinen Fuß auf die abgelegene Insel. In Schottland hat Absalom Cornet Hexen verbrannt, jetzt soll er auf Vardø für Ordnung sorgen. Ihn begleitet seine junge norwegische Ehefrau. Ursa findet die Autorität ihres Mannes aufregend und hat zugleich Angst davor. Auf Vardø begegnet sie Maren und erkennt in ihr etwas, das sie noch nie zuvor erlebt hat: eine unabhängige Frau. Doch für Absalom ist Vardø nur eins - eine Insel, die von Gott verlassen wurde und die er von teuflischer Sünde befreien muss.

Kiran Millwood Hargrave wurde 1990 in Surrey geboren. In ihrem ersten Jahr an der Universität begann sie Lyrik zu verfassen und veröffentlichte drei Gedichtbände und ein Theaterstück. Ihre Kinderbücher wurden in England sofort zu Bestsellern, sie gewann den Waterstones Children's Book Prize und den British Book Awards für das Children's Book of the Year. »Vardø. Nach dem Sturm« ist ihr erster Roman für Erwachsene. Mit ihrem Mann Tom und der Katze Luna lebt die Autorin in Oxford direkt am Fluss.

Beschreibung für Leser

Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

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2

Über Nacht wird die Welt weiß. Schnee häuft sich auf, Schnee füllt die Fenster und die Türöffnungen. Die Kirche bleibt dunkel an diesem Weihnachten, diesem ersten Tag danach, ein Loch zwischen den erleuchteten Häusern, das Licht schluckt.

Drei Tage lang werden sie eingeschneit, Diinna in ihrer schmalen Kammer, Maren ebenso unfähig vom Bett aufzustehen wie mamma. Sie essen nur altes Brot, das ihnen wie Steine im Magen liegt. Für Maren fühlt sich die Nahrung in ihr so fest an und ihr Körper drumherum so unwirklich, dass sie in ihrer Vorstellung nur von mammas alten Broten auf der Erde festgehalten wird. Wenn sie nichts isst, wird sie zu Rauch werden und sich im Dachgesims ihres Hauses sammeln.

Sie hält sich selbst zusammen, indem sie ihren Bauch füllt, bis er schmerzt, und indem sie so viel wie möglich von sich in die Wärme des Feuers rückt. Überall, wo es sie berührt, ist sie real. Sie hebt ihre Haare, um ihr schmutziges Genick herzuzeigen, spreizt ihre Finger, damit die Wärme zwischen ihnen leckt, sie hebt ihre Röcke, sodass ihre Wollstrümpfe zu sengen und zu stinken beginnen. Da und dort und dort. Ihre Brüste, ihr Rücken und zwischen ihnen ihr Herz sind in ihrem Winterleibchen gefangen, eng zusammengeschnürt.

Am zweiten Tag geht, zum ersten Mal seit Jahren, das Feuer aus. Pappa hat es immer entfacht, und sie haben es nur in Gang gehalten, haben es nachts mit Asche bedeckt und jeden Morgen die Kruste zerbrochen, um sein heißes Herz atmen zu lassen. Innerhalb von Stunden sind ihre Decken mit einer Frostschicht überzogen, obwohl Maren und ihre Mutter im selben Bett schlafen. Sie sprechen nicht miteinander, sie kleiden sich nicht aus. Maren wickelt sich in pappas alten Seehundfellmantel. Das Fell ist nicht ordentlich abgehäutet und stinkt ein wenig nach verfaultem Fett.

Mamma trägt Eriks Mantel aus der Zeit, als er noch ein Kind war. Sie hat stumpfe Augen wie ein geräucherter Fisch. Maren versucht sie dazu zu bewegen, etwas zu essen, aber ihre Mutter rollt sich nur auf ihre Bettseite und seufzt wie ein Kind. Maren ist dankbar für die weiße Leere am Fenster, denn so ist das Meer außer Sicht.

Diese drei Tage sind ein Abgrund, in den sie stürzt. Sie beobachtet, wie pappas Axt in der Dunkelheit blinkt. Ihre Zunge wird dick und belegt, die weiche Stelle, auf die sie während des Sturms gebissen hat, schwammig und geschwollen, mit etwas Hartem in der Mitte. Sie beißt darauf herum, und das Blut macht sie durstiger.

Sie träumt von pappa und Erik, wacht schweißnass auf, mit frierenden Händen. Sie träumt von Dag; als er den Mund öffnet, ist er voller Nägel für ihr gemeinsames Bett. Sie fragt sich, ob sie und ihre Mutter hier sterben werden, ob Diinna schon tot ist, ob das Baby aber noch in ihrem Bauch strampelt, immer langsamer. Sie fragt sich, ob Gott zu ihnen kommen und ihnen befehlen wird zu leben.

Beide stinken sie, als Kirsten Sørensdatter sie am dritten Abend freischaufelt. Kirsten hilft ihnen, Holz aufzuschichten und endlich das Feuer wieder anzuzünden. Als sie den Weg zu Diinnas Tür freiräumt, sieht Diinna beinahe wütend aus, das Fackellicht fängt den matten Schein ihrer gespitzten Lippen ein, die Hände fest an die Seiten ihres geschwollenen Bauchs gepresst.

»Kirke«, sagt Kirsten zu ihnen allen. »Es ist Sabbat.«

Selbst Diinna, die nicht an ihren Gott glaubt, widerspricht nicht.

Erst als sie alle in der Kirche versammelt sind, begreift Maren: Fast alle ihre Männer sind tot.

Toril Knudsdatter zündet die Kerzen an, jede einzelne, bis der Raum so hell strahlt, dass Marens Augen brennen. Sie zählt stumm. Früher gab es dreiundfünfzig Männer, jetzt sind ihnen nur dreizehn geblieben: zwei im Arm gehaltene Babys, drei Alte, der Rest sind Jungen, noch zu klein für die Boote. Sogar den Pfarrer haben sie verloren.