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Die Flucht der Dichter und Denker

Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen von Herbert Lackner Rezension verfassen
Bewertung:

Herbert Lackner, Journalist und Autor, hat in seinem Buch „Die Flucht der Dichter und Denker“ die Leidenswege der intellektuellen Elite Deutschlands und Österreichs nachgezeichnet, die während der Nazi-Diktatur aus ihrer Heimat fliehen mussten.

Viele dieser Geschichten sind in groben Zügen bekannt, doch ist es dem Autor gelungen, mir noch unbekannte Details ausfindig zu machen. Vor allem die sozialistischen und/oder kommunistischen Verfolgten sind nicht immer ganz so bekannt.

Immer wieder zieht Lackner Vergleiche mit den aktuellen Flüchtlingsströmen. So werden die Helfer der damaligen Zeit gelobt, obwohl der eine oder andere durchaus gut verdient hat. Heute wären sie alle Schlepper. Wenig bekannt ist auch, dass Eleanor Roosevelt sich intensiv für verfolgte Juden eingesetzt hat, ihr Ehemann, davon wenig begeistert war, weil er einen Wahlkampf zu gewinnen hatte. Ihrem Engagement ist der Einsatz von Varian Fry zu verdanken, der mit einer Liste der interessantesten (und vermutlich für die USA nützlichen) Flüchtlingen bewaffnet nach Europa reiste, um diese Menschen zu retten. Die Rettungsaktion war ursprünglich für rund 200 Personen gedacht, geworden sind es dann letzten Endes über 2.000. Die Hilfe Frys war recht pragmatisch und unterschiedlich. Manche Flüchtlinge hatten zwar die Dokumente beisammen, aber schlichtweg kein Geld mehr, die begehrten Schiffspassagen zu kaufen. Da konnte Fry mit seinen Dollars leicht helfen. Spannend, weil mir bislang unbekannt, ist die Geschichte des Bill Freier, der eigentlich Bil Spira heißt. Freier stammt aus Wien und fristet sein Dasein als Straßenzeichner in Marseille. Seine Begabung beim (Ver)Fälschen von Passbildern verhilft vielen Verfolgten zu neuen Papieren.

In einem Epilog berichtet Herbert Lackner, was aus einigen Flüchtlingen geworden ist.

Meine Meinung:

Ein sehr interessantes Buch, aus dem ich bislang Unbekanntes erfahren habe. Es passt gut zu Evelyn Steinthalers Buch „Mag’s im Himmel, mag’s in der Hölle sein“ das von berühmten Schauspielern berichtet, die mit einer jüdischen Partnerin verheiratet waren und Nazi-Deutschland nicht verlassen haben.

Den Anstoß zu Herbert Lackner Buch gab niemand geringerer als Alt-Bundespräsident Heinz Fischer, dessen Ehefrau Margit, im schwedischen Exil ihrer sozialistischen Eltern, Anni und Otto Binder, zu Welt gekommen ist.

Fazit:

Eine gute Dokumentation über die Vertriebenen der Nazi-Zeit. Gerne gebe ich hierfür 5 Sterne.

von Bellis-Perennis, 14. Oktober 2018
Bewertung:

"Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen" …
hat der Journalist und langjährige Chefredakteur des profil , Herbert Lackner, aus einem neuen Blickwinkel aufgezeichnet .
Mitglieder der Familie Mann, Franz Werfel und seine Frau Alma, Karl Farkas, Lion und Martha Feuchtwanger und viele andere, die vor der Herrschaft der Nationalsozialisten geflohen sind, waren prominent, ihre Biographien und Fluchtgeschichten sind weitgehend bekannt.
Neu ist, dass Herbert Lackner diese linear erzählten Schicksale gleichsam bündelt und "horizontale" Zeitlinien einzieht, an denen sich die Wege der Flüchtlinge immer wieder kreuzen- von Paris oder London weiter nach Südfrankreich und Lissabon, ständig auf der Suche nach nötigen Papieren, nach einer Möglichkeit den Lebensunterhalt zu bestreiten, nach einem Weg schließlich in ein freies Land, sei es Amerika, Brasilien, Mexiko oder auch die Schweiz.
Wo man unterwegs Aufnahme findet, spricht sich unter Flüchtlingen schnell herum. Im französischen Montauban etwa, hier kreuzen sich 1940 die Wege prominenter Sozialdemokraten mit Schriftstellern wie Alfred Polgar, der Philosophin Hannah Arendt oder Friderike Zweig-Winternitz, der geschiedenen Frau von Stefan Zweig. Die Familie Cohn-Bendit aus Berlin kann sich in Montauban verstecken, 1945 kommt ihr Sohn Daniel hier zur Welt, 1968 in Paris und später bei den deutschen Grünen eine wichtige Leitfigur.
Besonders beschwerlich und ungewöhnlich ist der Weg über die Pyrenäen, den ausgerechnet der 70 jährige Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly und dem Neffen Golo, der kranke und übergewichtige Franz Werfel und seine Frau Alma, unpassend gekleidet in Sandalen und weißem Kleid, gehen müssen. Die zwölf Koffer, sieben davon gehören den Werfels, nimmt Varian Fry, der amerikanische Fluchthelfer, den Stefan Zweig engagiert hat, im Zug durch den Grenztunnel mit- einen Schlepper würde man ihn heute nennen.
Schicksale und Wege der Flüchtlinge sind ähnlich, aber Solidarität entsteht dadurch nicht zwingend, und mit offenen Armen werden sie kaum wo aufgenommen. Auch Vorurteile und Abneigungen schwinden nicht, nur weil man fern der Heimat ist. Karl Farkas wirft man vor, dass er auch in der Emigration bald wieder Kabarett macht, aber was soll er sonst tun um Geld zu verdienen?
Weitgehend unbeliebt scheint die dominante Alma Mahler –Werfel, aber sie ist immerhin eine von wenigen Frauen, die immer als selbstständige Person und nicht nur als "die Frau von" wahrgenommen wird.
Lebenslinien in schweren Zeiten- gegenübergestellt und auf Gemeinsamkeiten akribisch untersucht von Herbert Lackner, der damit auch Verbindungen aufzeigt, die so noch nicht allgemein bekannt sind.

von HEYN Leserunde Renate Pfeiffer, 10. Oktober 2017