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Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der TodOverlay E-Book Reader

Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

Roman von Gerhard Jäger
Seitenanzahl:423 Seiten
Sprache:Deutsch
Veröffentlicht:2016
Verlag: Blessing
ISBN:978-3-641-19749-0
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Kurztext / Annotation

Ein sprachgewaltiger Roman über eine unerfüllte Liebe, einen ungeklärten Mord und eine spannende Spurensuche
Im Herbst 1950 kommt der junge Wiener Historiker Max Schreiber in ein Tiroler Bergdorf, um einem alten Geheimnis auf den Grund zu gehen. Konfrontiert mit der archaischen Bergwelt und der misstrauischen Dorfgemeinschaft , fühlt er sich mehr und mehr isoliert. In seiner Einsamkeit verliert er sich in der Liebe zu einer jungen Frau, um die jedoch auch ein anderer wirbt. Als ein Bauer unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt, ein Stall lichterloh brennt und der Winter mit ungeheurer Wucht und tödlichen Lawinen über das Dorf hereinbricht, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Schreiber gerät unter Mordverdacht und verschwindet spurlos - nur seine Aufzeichnungen bleiben zurück.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später will ein alter Mann endlich die Wahrheit wissen. Von seinen eigenen Schatten verfolgt, begibt er sich auf Spurensuche in die Vergangenheit.

Raffiniert, voller Rhythmus und Poesie erzählt Gerhard Jäger von der Magie, aber auch von der Brutalität eines Ortes, der aus Raum und Zeit gefallen scheint.

Gerhard Jäger, geboren 1966 in Dornbirn, arbeitete als Behindertenbetreuer, Lehrer und Vertreter im Außendienst. Er absolvierte eine Journalistenausbildung und arbeitete als freier Journalist und als Redakteur. 1994 erhielt er ein Nachwuchsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 1996 den Vorarlberger Literaturpreis für einen bisher unveröffentlichten Roman. Gerhard Jäger verstarb am 20. November 2018.

Beschreibung für Leser

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VOR SECHS TAGEN

Sonntag

»Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.«

Es ist vierzig Jahre her, auf den Tag genau, dass diese Worte gesprochen wurden. Von einer Indianerin, über hundert Jahre alt, die Tochter des legendären Häuptlings Spottet Elk, der 1890 in dem Massaker am Wounded Knee erschossen wurde. So hat man es uns jedenfalls gesagt, vielmehr meiner Frau Rosalind, und deshalb schleppte sie mich an meinem vierzigsten Geburtstag zu dieser Indianerin.

»Du musst zugeben, sich von einer indianischen Seherin die Zukunft voraussagen zu lassen ist ein ganz besonderes Geschenk. Noch dazu von der Tochter von Spottet Elk. Das musst du dir mal vorstellen.« Ich stellte es mir vor, denn wenn es um Indianer ging, kannte meine Frau keinen Spaß.

Wie sich meine Frau dieses Treffen ausgemalt hatte, kann ich nur erahnen: Vielleicht hatte sie ein Zelt vor Augen gehabt, das Innere in ein fahles Licht getaucht, ein Feuer in der Mitte, seltsam riechende Kräuter, die zischend in den Flammen verbrennen, eine alte Indianerin, die trotz ihrer hundert Jahre mit erstaunlich geradem Rücken auf dem Boden sitzt, eine Trommel schlägt und mit kehliger Stimme uralte Lieder singt. Etwas in dieser Art. Aber ganz sicher keine Barackensiedlung und keinen Mann mit fettigen Haaren, nacktem Oberkörper und einer Bierflasche in der Hand, der die Tür öffnete und uns die freie Hand entgegenstreckte, um das Geld in Empfang zu nehmen. Wie viel meine Zukunft kostete, hat mir Rosalind nie erzählt.

Der Mann führte uns in die Baracke, stickig, halbdunkel, ein plärrendes Radio, an der Wand ein dicker Polsterstuhl und darin, in Decken eingehüllt, ein uraltes menschliches Wesen. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Ich verstand nicht, erst als er mit dem Kinn eine herrische Bewegung nach unten machte, wurde mir klar, was er wollte: Ich kniete nieder, während er meine Hand nahm und sie der alten Frau in den Schoß legte. In diesem Moment, in dieser schwülen Hitze, das laute Radio im Hintergrund und die Bierfahne des Mannes in meinem Nacken, fielen die magischen Worte: »Ich sehe einen großen Vogel. Er wird dich nach Hause bringen an deinem achtzigsten Geburtstag.«

Diese Prophezeiung machte mir keine Angst. Wenn man mit vierzig erfährt, dass man mit achtzig sterben wird, so ist das weit weg. Und am achtzigsten Geburtstag zu sterben hat irgendwie auch Stil.

Nach diesem Satz schien die Alte wieder in sich zu versinken. Ohne den Lärm des Radios wäre die Stille kaum auszuhalten gewesen. Ich wagte einen Seitenblick auf Rosalind. Sie stand etwa zwei Meter von mir entfernt, hatte eine Hand auf den Mund gelegt und fixierte einen imaginären Punkt an der Wand. Ich wartete, dann kam endlich wieder Bewegung in die Seherin. Sie nahm meine Hand, hielt sie ganz nah vor ihr Gesicht und suchte durch ihre dicke Brille hindurch nach meiner Zukunft. Schließlich führte sie die Hand zum Mund, streckte ihre Zunge heraus und leckte über meine Handinnenfläche. Sie verharrte kurz, ließ mich los und sagte etwas, was ich nicht verstand, was aber den Mann dazu veranlasste, vorzutreten und ihr die Flasche Bier zu reichen, die sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit ergriff und an die Lippen führte.

Der Mann sah mich an und sagte: »Zu heiß heute, die Geister sind müde, kann man nichts machen.«

Das war endgültig zu viel für Rosalind. Sie drehte sich abrupt um, stampfte zur Tür und verschwand. Ich blickte unsicher auf den Indianer, der bedauernd mit den Schultern zuckte. »Zu heiß, kann man nichts machen.«

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich noch kniete. Ich kam mir vor wie ein Idiot, stand verlegen auf, reichte dem Mann unsicher die Hand und verließ die Baracke.

Rosalind saß schon im Auto. Ich stieg ein, startete den Wagen und fuhr los. Mir war bewusst, wie heikel die Situation war. Indianer waren Rosalinds Le